Fahrtenschreiber für Menschen

Was mit Fitnessbändern für Sportler begonnen hat, verbreitete sich immer mehr. Bereits wittern Hersteller, IT-Firmen und Versicherer in der Erfassung von Vitaldaten ein Riesengeschäft.

Giorgio V. Müller
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Jedem Einzelnen ist es überlassen, wie viele Angaben er zu seiner Person und Gesundheit machen will. (Bild: J. David Ake / Keystone)

Jedem Einzelnen ist es überlassen, wie viele Angaben er zu seiner Person und Gesundheit machen will. (Bild: J. David Ake / Keystone)

«Eine Gesundheitsdaten-Wirtschaft entsteht, und ihr alle werdet damit viel Geld verdienen», ruft Jay Olshansky begeistert ins Publikum, das vergangene Woche für die Konferenz «Health monitoring: Making sense of sensors» zum Rückversicherer Swiss Re nach Rüschlikon gekommen ist. Der amerikanische Altersforscher ist nicht nur Professor an der School of Public Health der Universität Illinois in Chicago, sondern auch Mitgründer und Chefwissenschafter von Lapetus Solutions, einem Unternehmen, das seine langjährigen Studien in der Altersforschung kommerziell nutzen will. Heute reiche ein mit dem Smartphone geschossenes Porträtbild aus, um mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lebenserwartung dieser Person zu bestimmen, sagt Olshansky. Ob Fettleibigkeit, Rauchen, Drogenkonsum, HIV, Lungenprobleme oder gewisse Erbkrankheiten – alles könne bereits durch eine einfache Aufnahme mit hoher Genauigkeit bestimmt werden.

Interesse der Versicherer

Wer bei Lapetus zu seinem Bild auch noch einige weitere Angaben wie Blutzuckerwerte, sportliche Aktivitäten und Schlafprotokolle erfasst, erfährt mit einer sehr hohen Trefferquote seine (statistische) Restlebenszeit. Dass sich Lebensversicherer für solche Daten begeistern können, liegt auf der Hand. Auf einfache Weise ist so das relative Risikoprofil einer Person erstellbar, das die Versicherungen für die Tarifierung einsetzen können. Im Ausland haben bereits einige Versicherungen damit begonnen, auf Routinechecks, die den Gesundheitszustand nur beim Abschluss einer neuen Lebensversicherung erheben, für gewisse Kunden zu verzichten.

Allgegenwärtige Smartphones und billige Sensoren haben den tragbaren Fitness-Trackern im Gesundheitsbereich Auftrieb gegeben. Die freiwillige Erfassung von Vitaldaten soll zu einem gesünderen Lebensstil motivieren. Das kommt nicht nur dem Wohlbefinden des Betroffenen zugute, sondern hilft auch, die Gesundheitskosten und Absenzen am Arbeitsplatz zu reduzieren und die Versicherungsprämien tief zu halten. Die mittlerweile Dutzende von Herstellern und Hunderte von dazugehörenden Gesundheits-Apps konzentrieren sich in der Regel auf den unregulierten Bereich. Dort sind auch die Auflagen in Sachen Datenschutz geringer. Doch nicht einmal diese würden von den untersuchten Fitness-Trackern und -uhren mit Gesundheitsfunktionen erfüllt, schreiben die Datenschutzbehörden in Deutschland.

Im Gegensatz dazu geht Preventice Solutions Group den beschwerlicheren Weg und entwickelt von der amerikanischen Gesundheitsbehörde (FDA) zugelassene Medizintechnikgeräte. Laut dem Mitgründer und Konzernchef Jon P. Otterstatter lässt bei den im privaten Umfeld verwendeten Sensoren die Genauigkeit nämlich sehr zu wünschen übrig. Abweichungen von +/–30% seien keine Seltenheit, erklärt er. Was für Fitnessenthusiasten vielleicht noch tolerierbar ist, werde für einen Arzt unbrauchbar. Aus solchen Daten will und darf er seine Diagnose nicht stützen. Der an der renommierten Mayo-Klinik in den USA entwickelte Sensor der Preventice-Geräte habe EKG-Qualität, erläutert Otterstatter. Zudem seien die damit erhobenen Daten auf das in den USA gebräuchliche elektronische Patientendossier ausgerichtet, weshalb die Dienstleistung von den Krankenversicherungen vergütet wird.

Amerikanische Lebensversicherungen nutzten die EKG-Daten schon jetzt als Information für den Vertragsabschluss, sagt Otterstatter. Er kann sich deshalb gut vorstellen, dass in einer nächsten Phase Krankenversicherer oder Ärzte permanent die Herzfrequenzdaten eines Patienten erheben, um rechtzeitig oder sogar präventiv medizinisch zu intervenieren. Auch über implantierbare Sensoren könne nachgedacht werden. Doch bis es so weit sei, müssten die gesamten Abläufe im Gesundheitswesen synchronisiert und digitalisiert werden. In der Schweiz steckt die Entwicklung eines elektronischen Patientendossiers seit Jahren in der föderalistischen Mühle, weil das Gesundheitswesen weitgehend kantonal geregelt ist.

Akzeptanz und Motivation

Die technischen Herausforderungen tragbarer Gesundheitscomputer sind deshalb nicht das grösste Problem. Entscheidender ist vielmehr, ob sie auch von den Personen benutzt werden, die am meisten davon profitieren könnten. Es ist eine Tatsache, dass sich vor allem jene Leute für Fitness-Tracker begeistern, die bereits gesund leben. Wie bei vielen anderen Gadgets landen viele dieser Geräte jedoch nach einer gewissen Zeit in der Schublade. Die grösste Herausforderung sei, dass die Leute die Messgeräte kontinuierlich tragen, meint auch Dan Zelezinski, der Gründer von Peak Health, der während 15 Jahren für das Gesundheitsprogramm der US-Investmentbank Goldman Sachs tätig gewesen ist und heute Hedge-Fund-Manager in Sachen Gesundheit berät.

Wenn jemand weiss, wie man Leute motiviert, dann ist es Vishal Gondal. Der Gründer und Konzernchef von GOQii kommt von der Videospiel-Seite. Vor einigen Jahren hat der Inder seine Gaming-Firma Indiagame für 100 Mio. $ an Disney verkauft. Seine zweijährige Firma gibt die Fitness-Tracker kostenlos ab, verlangt aber für die damit zusammenhängenden Dienstleistungen eine monatliche Gebühr. Der Nutzer kann aus einer Vielzahl persönlicher Trainer wählen, mit denen er sich per Video-Chat austauschen und motivieren lassen kann. «Motivation muss von Menschen kommen», ist Gondal überzeugt. Das ganze Programm ist wie ein Spiel aufgezogen, wobei man gegen sich selbst bzw. auf seine vordefinierten Ziele hin spielt.

Jedem Einzelnen ist es überlassen, wie viele Angaben er zu seiner Person und Gesundheit machen will. Während physischer Aktivität werden sogenannte Karma-Punkte gesammelt, die einer selbstgewählten gemeinnützigen Organisation zugutekommen. Finanziert werden die Spenden durch Partnerfirmen. Bisher seien auf diese Weise 1,9 Mio. $ zusammengekommen. Weil eine Bank ebenfalls mit von der Partie ist, ist das Fitnessarmband auch ein Zahlgerät wie eine Apple-Watch.

Gesellschaftlicher Druck

Laut Tero Myllymäki, Forschungschef von Firstbeat Technologies, hängten 40% aller Krankheiten von der Wahl des falschen Lebensstils ab. Mit den Analysemethoden des finnischen Unternehmens arbeiten vor allem Spitzensportler zur Leistungssteigerung, sie werden aber auch von den gängigen Herstellern von «Wearables» genutzt. Mit einer um 20% verbesserten Fitness bekomme jeder rund 20 zusätzliche Jahre des Wohlbefindens, behauptet Myllymäki.

Wohin die Reise gehen könnte, zeigt ein Blick in die USA. Hier kann man sich sein eigenes elektronisches Patientendossier erstellen. Die Dienstleistung von Sharecare, einer interaktiven Gesundheits-Website, wird schon von mehr als 60 Mio. Menschen genutzt. Sogar der Klang der Stimme kann erfasst werden, um seinen Gemütszustand zu messen. Beliebt ist auch der Real-Age-Test, mit dem (klinisch validiert) die Sterblichkeit vorausgesagt wird. Schon über 40 Mio. Personen hätten damit herausgefunden, wo ihr biologisches Alter läge, erzählt Chief Operating Officer Russ Johannesson. Das Privatunternehmen (auch Swiss Re ist daran beteiligt) beschäftigt rund 2500 Mitarbeiter. «Wir sind der Big Brother, der dir hilft», umschreibt Johannesson das Angebot von Sharecare.

Wie nah tragbare Sensoren und medizinische Versorgung sind, zeigt die kalifornische Firma Dexcom mit ihren am Bauch getragenen Messgeräten, die kontinuierlich den Glukosespiegel von Diabetespatienten erfassen. Alle fünf Minuten werden die Daten via Bluetooth-Verbindung und Smartphone oder Apple-Watch übermittelt, damit der Patient bei drohender Unterzuckerung rechtzeitig reagieren kann. Wenn das Smartphone zu vibrieren beginnt, muss sich der Patient Insulin spritzen. Die von der FDA zugelassene Dienstleistung ist in 39 Ländern erhältlich (u. a. in der Schweiz). Der nächste Schritt sei eine Insulinpumpe mit automatisierter Abgabe, sagt Nate Heintzman von Dexcom. Was das für die Sicherheit des Systems heisst, kann man sich vorstellen.